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Panzerkreuzer Potemkin
Mit einem
unerhörten Sinn für Zeichen und Wirkungen ist der
Augenblick gewählt, in dem sich die Revolution von ihrem
realen Beginn bis zu ihrem traumhaften Ende zusammenballt. Ein
Augenblick vor dem Sieg der Revolution, aus der Zeit des
unterirdischen Wühlens und gut-anarchischen Begehrens, in
der die Wahrheit noch einschlagen kann wie ein Blitz.
Matrosenmeuterei im Jahr 1905 auf dem Panzerkreuzer
»Potemkin« vor Odessa. Der Grund ist ein kleiner
und ein ganz großer: verdorbenes Fleisch.
Das Volk zu Odessa fraternisiert mit dem Matrosenvolk auf dem
Kreuzer – wirklich, es ist das Volk, das aufgerührt
ist, das sich rührt.
Auf der Gegenseite die blinde Gewalt der Kosacken, das
Admiralitätsgeschwader.
Die Lage ist so einfach, jedes Kind erfaßt, daß
Recht gegen Unrecht steht, daß Geknechtete sich gegen
ihre Bedränger wehren. Wie aber endet der Kampf, der nur
im Märchen glücklich endet?
Dieser Film spannt nicht wie die westlichen durch Sensationen,
hinter denen die Langeweile sich dehnt. Die Sache spannt in
ihm, denn sie ist wahr.
Auf die Sache ist die Kunst verwandt. Ein Geschehen, das
sinnvoll anfängt und sinnvoll schließt, erhält
in dem Film die unwiderrufliche, endgültige Gestalt. Eine
formal-ästhetische Betrachtung möchte angesichts
dieses Werks leicht von »Tendenzkunst« reden. Aber
die Propagandadienste, die der Film, zum Glück, leistet,
sind nicht außerkünstlerischer Art, sondern eine
Gewähr für die Echtheit der Sache, ohne die das
Künstlerische nur ein Schein wäre.
Der Regisseur heißt Eisenstein. Herr Eisenstein hat mit
den Mitteln des Films zum ersten Male vielleicht eine
Wirklichkeit dargestellt. Er bleibt an der Oberfläche,
die dem Kurbelapparat zugekehrt ist; er illustriert keine
Texte, er beschränkt sich vielmehr darauf, die optischen
Eindrücke aneinander zu reihen. Aber wer assoziert hier?
Die von Empörung, Schrecken und Hoffnung erfüllte
Phantasie, die um ein Ziel kreist und inhaltliche
Gewißheiten hat. Sie erblickt die automatischen
Bewegungen der Kosackenbeine und fliegt über die
Gesichter der Menge, um an einem Kinderwagen haften zu
bleiben. Ihr verschmilzt das Volk von Odessa und die
große Hafentreppe zur unlöslichen Einheit, endlos
dünkt ihr der Menschenzug auf der Mole. Diese von der
Sache ergriffene Phantasie wälzt die Matrosenleiber
durcheinander, sieht Menschenschatten durch eiserne
Gitterroste, spannt die endlosen Geschützrohre über
das Meer. Mit rebellischer Hast fährt sie von dem
Lorgnon, die Verkörperung größter Macht, zu
dem riesigen Panzerturm, die Teile der Dinge gelten ihr so
viel wie die Meuterer, denn Meuterei steckt auch in ihnen.
(Siegfried Kracauer, in: Frankfurter Zeitung, 16.5.1926)
Sergej Eisensteins berühmter Film, hergestellt zum 20.
Jahrestag der Meuterei auf dem zaristischen Kriegsschiff vor
dem Hafen von Odessa am 14.6.1905, ist nach den klassischen
Prinzipien der Tragödie in fünf Akte gegliedert.
Eine bis dahin unbekannte Rhythmik und Dynamik des Schnitts
macht den Revolutionsfilm zu einem besonders eindringlichen
Werk.
(Stefan Lux: Lexikon des Internationalen Films; Rowohlt
Taschenbuch Verlag, Reinbek 1995)
UdSSR 1925 - Regie: Sergej M. Eisenstein - Drehbuch: Sergej M.
Eisenstein, Nina Agadshanova-Shutko - Kamera: Eduard
Tissé - mit: Aleksandr Antonov, Vladimir Barskij,
Grigorij Aleksandrow - Produktion: Erste Goskino-Fabrik -
Premiere: 24.12.1925 - Farbe: schwarzweiß mit
handkoloriertem Effekt - Länge: 1.341 Meter -
73 Minuten (16 B/s)
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